„Ich erinnere mich gerade daran - auf diesem Treppenabsatz stand oft unser Englischlehrer. Eine Socke länger als die andere. Jedes Mal!“, erzählt die Frau Mitte 60 an der Treppe zur Aula. „Einmal sprach ich ihn darauf an, was schon ziemlich vorlaut war“, fährt sie fort. Von einer anderen Seite wird die in Erinnerungen schwelgende Dame unterbrochen: es seien keine verschiedenartigen Socken gewesen, sondern unterschiedliche Schuhe.
Wie genau kann so eine Erinnerung sein - mehr als fünfzig Jahre nach der vorlauten Bemerkung?
Die Menschengruppe, die sich am 8. September im Nieselregen vor dem Eingang des WHG versammelte, war deutlich älter als die gewöhnlichen Besucher des Gymnasiums. Wetterbedingt betraten sie noch vor der vereinbarten Zeit unsere Heiligen Hallen oder besser gesagt ihre. Denn die rund 15 Personen im Alter von 67 Jahren verabschiedeten sich vor 50 Jahren von dieser Schule, die damals übrigens noch „Friedrich-Engels-Schule“ hieß, mit dem Abschluss in der Tasche und der weiterführenden Ausbildung im Blick. Gemeinsam bestritten sie ihre Schulzeit als eine "r-Klasse" vom dritten bis zum zehnten Schuljahr. Besonderheit dieser Klasse war, dass sie sprachlich ausgerichtet war. Das bedeutet, dass die Schüler bereits seit der dritten Klasse Russisch und später auch Englisch als Pflichtfächer belegten.
Bereits am Morgen dieses besonderen Tages fanden sie sich zusammen, um die Schulbank im alten Klassenzimmer des Stadtmuseums zu drücken und nun, um sich in ihrer alten Schule umzusehen.
Im gegenseitigen Austausch erlangte ich einige Einblicke in den Unterricht vor mehr als 50 Jahren. Wusstet ihr, dass die Sportstunden früher in unserer Aula stattfanden? Es erscheint mir unvorstellbar, dass sich die Jungs damals auf der Balustrade und die Mädchen in einem kleinen Hinterzimmer umziehen mussten, wie ich auf Nachfrage erfuhr.
Während der Begehung der Aula wurde viel erzählt, Erinnerungen ausgetauscht und über Geschehenes oder eben nicht Geschehenes diskutiert. Umso gespannter waren unsere Gäste auf die heutige moderne Turnhalle. Wie ich erfuhr, war auf ihrem Boden früher eine Schwimmhalle.
Wir machten uns also auf den Weg zur Turnhalle, wo gegenwärtig die Volleyball-GTA von Frau Döhren stattfand, die einige Einblicke in heutige sportliche Ereignisse und Erfolge gab.
Zurück im Schulgebäude begaben wir uns zu dem Raum, den alle mit Spannung erwarteten, dem alten Klassenzimmer. Unterwegs stellten die Besucher fest, dass sich unsere Innenausstattung stark verändert hat, einzig die Türen seien geblieben. Das heutige Vorbereitungszimmer für Geschichte war früher das Sekretariat und die Bibliothek damals das Lehrerzimmer. Neben diesem standen wir nun, denn die 208 auf der gegenüberliegenden Seite, das heutige GTA-Zimmer, wurde umgehend als Klassenzimmer wiedererkannt.
„Du willst mir doch nicht sagen, dass unser Klassenzimmer genau gegenüber vom Lehrerzimmer lag?“ - „Doch Mecki, so war es. Ich bin mir ganz sicher“, diskutieren zwei auf dem Gang vor dem Zimmer 208.
Mit voller Überzeugung und angespannter Erwartung betraten die Frauen und Männer ihr Klassenzimmer. Nach 50 Jahren wurde überrascht festgestellt, dass es sogar ein Sofa in der Ecke gibt. Der Nostalgie halber stellten wir die Tische nochmals um, sodass sich jeder an seinen alten Platz setzen konnte. Es wurden mehrere Klassenfotos geschossen und reichlich über den Unterricht damals diskutiert.
„Als ich meinen Bruder in seinem Klassenzimmer aufsuchen wollte, es war eine sehr wilde und chaotische Klasse, die ihren Lehrern gerne einen Streich spielen wollte, öffnete ich die angelehnte Tür und ein nasser Schwamm flog mir genau auf den Kopf.“
Abschließend ging es ins Schulmuseum, das mit viel Interesse aufgenommen wurde. Die alten Chroniken wurden durchgeblättert und der ein oder andere entdeckte Fotos von sich, Geschwistern oder Freunden. Nach einer Verabschiedung zog die Gruppe weiter. Neben der Besichtigung der Kirchstraße in Riesa sollte der Tag mit einem gemeinschaftlichen Abendessen im „Wettiner Hof“ ausklingen.
Ich bedanke mich bei der aufgeweckten Truppe, die mir interessiert zuhörte, mit der ich auch ins Gespräch kam.
Festgestellt wurde auch, dass sich die Erinnerungen nach fünfzig Jahren unter den ehemaligen Mitschülern differenzieren, aber auch ergänzen. Das eigentlich Geschehene wird über die Zeit durch neue Erlebnisse verändert und man erhält sich nur das Sinngebende einer Geschichte. Ob der Englischlehrer nun unterschiedliche Socken, Schuhe oder Schnürsenkel trug, ist doch eigentlich egal. Sicher sind sich alle seiner ehemaligen Schüler: einen kuriosen Kleidungsstil hatte er auf jeden Fall.
Für mich persönlich war der Nachmittag sehr erlebnisreich und wurde nicht nur durch interessante Geschichten über unser Schulhaus bereichert, sondern vor allem durch die Anekdoten über das damalige Schülerleben sowie über die Erlebnisse und Charakteristik der Klasse, zu der (kleiner Plot-Twist) auch meine Oma gehört.
„Als ich zum meinem Vater sagte: ‚Papa, ich werde Lehrerin‘, antwortete er nur, dass ich mir das überlegen solle, nicht jede Klasse sei so lieb wie meine.“
Ein Dank geht an Herrn Pfennig, der das Klassentreffen mit organisiert hat und die Gruppe unterstützend begleitete.
-- Lena Reiter, 12. Klasse
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